LIEBK!ND - PRESSESTIMMEN

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Wo fängt die Bagatellisierung an?

"Liebkind", ein neues Stück der Gruppe "PortFolio Inc.", stellt im "Theater unterm Dach" beunruhigende Fragen zum Thema Kindesmissbrauch

Prenzlauer Berg Nachrichten (Brigitte Preissler, 4. Februar 2011)

 

Da hatte sich doch gerade noch Til Schweiger in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz so plakativ in Rage geredet. Um Verbrechen an Kindern ging es in der Sendung, um Sexualdelikte wie im Fall des ermordeten, zehnjährigen Mirco. Schweigers Haltung dazu war klar: Eine Tätergesellschaft sei Deutschland, empörte er sich, um die Opfer kümmere sich keiner. „Wir brauchen eine Meldepflicht für Sexualstraftäter.“

Und tags darauf geht man dann ins Theater unterm Dach, zur Premiere von „Liebkind“, und ist irgendwie froh, dass hier weit und breit kein Til Schweiger zu sehen ist. Es geht in der Inszenierung von Marc Lippuner und der von ihm mitbegründeten Theaterformation „PortFolio Inc.“ nämlich um körperliche Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Um Missbrauch, um Pädophile und Kinderschänder. Und natürlich auch um deren Opfer. Die klingen in dem Stück keineswegs immer leidend, wenn sie erzählen, was ihnen als Kind zustieß, und man ist davon zutiefst verstört. Wie würde Schweiger das wohl erst finden?

Ein Mann spricht da zum Beispiel von seiner „Liebe“ zu einem dreiunddreißigjährigen Arzt – der mit ihm Sex hatte, als er elf war. Die Passagen sind an einen Text Ronald M. Schernikaus aus seinem Hauptwerk "Legende" angelehnt. Noch als erwachsener Mann bemitleidet der Erzähler seinen damaligen Verführer. Immer habe der Ärmste mit einem Bein im Gefängnis gestanden, bloß weil er mit ihm „kuschelte.“ In diesem Zusammenhang heißt „kuscheln“ zwar nichts anderes als Masturbieren. Aber egal, meint der Erzähler, "es war richtig.“ Und mehr noch, „wir hatten einander erwählt.“

In wechselnden Rollen tragen die drei Schauspieler Lutz Aikele, Anja Dreischmeier und Michael F. Stoerzer solche Provokationen vor. Sie erzählen aber auch von den Zeiten, als selbst die SPD den Paragrafen 176 des Strafgesetzbuches abschaffen wollte, der Sex mit Kindern unter Strafe stellt. Und machen sich ein wenig über Stephanie zu Guttenbergs Sendung „Tatort Internet“ auf RTL-2 lustig. Mitunter ergeben sich da extreme Kontraste zu anderen Szenen, in denen Menschen offen über ihr lebenslanges, tiefes Leiden an den sexuellen Übergriffen ihrer Väter, Nachbarn, Klavierlehrer reden.

Kurz: „Liebkind“ ist ein echtes Debattenstück, eine Aneinanderreihung konträrer und teilweise hochbrisanter Statements. Und was macht man als Bühnenausstatter, wenn man eine Aneinanderreihung konträrer, hochbrisanter Statements farblich in Szene setzen will? Richtig: Man hält sich, wie Halina Kratochwil, ausschließlich an die Farben schwarz und weiß. Weiße Kostüme, weiße Vorhänge, ein schwarzer Bühnenraum.

Nun sind Gut und Böse, Schuld und Unschuld, Opfer und Täter im echten Leben nicht immer so klar unterscheidbar wie, sagen wir, ein Vanilleeis und der Schnurrbart Adolf Hitlers. Nicht einmal in der Diskussion um Kindesmissbrauch. Wie wichtig ist es zum Beispiel, zwischen Pädophilen, Kinderschändern und Sexualstraftätern zu unterscheiden? Fängt hier schon der Täterlobbyismus, die Bagatellisierung an? Brauchen wir tatsächlich, wie Til Schweiger fordert, eine Meldepflicht für Sexualstraftäter? Die literarischen und dokumentarischen Texte, aus denen das Stück besteht, sind kommentarlos nebeneinander gestellt und widersprechen einander zum Teil, und diese unaufgelösten Gegensätze steckt man am Ende des Abends nicht so einfach weg. Anders als Schweiger bietet „Liebkind“ eben keine eindeutigen Antworten an; es stellt zutiefst beunruhigende Fragen, eröffnet einen Diskurs.

Am Schluss setzen die Schauspieler aus vielen weißen Zahnrädern und schwarzen Puzzleteilen eine kleine Maschine zusammen, eine Art Uhrwerk ohne Zeiger, das sich schließlich in Bewegung setzt. Kleine Piktogramme drehen sich darauf im Kreis, eine Papp-Kirche, ein Krankenhaus, ein Bett, ein Koffer, lauter kleine Gesellschafts-Bausteine umrunden einander auf wackeliger Bahn. Sie fluoreszieren im Dunkel, wie diese kleinen Leuchtsternchen, die man Kindern übers Bett klebt, damit sie gut einschlafen können.


Recherchen im Spiel
»LiEBK!ND« im Theater unterm Dach nähert sich ohne Hysterie dem Thema Missbrauch
Neues Deutschland (Lucía Tirado, 14. Februar 2011)


Es ist klug, eine Sache von vielen Seiten zu betrachten. Auch, wenn von Anfang an klar ist, dass es auf der einen Seite Opfer, auf der anderen Täter gibt. Wenn das mit solch umfangreichen Recherchen verbunden ist, wie in der Produktion »LiEBK!ND« der Gruppe PortFolio Inc., wird es auch entsprechend gut. Die Ankündigung der Theatermacher, sich mit dem gesellschaftlichen Tabu der körperlichen Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern auseinanderzusetzen – ohne Strafbestände anzu-zweifeln – vermittelte ein seltsames Gefühl. Das haben Tabus eben so an sich.
Das Stück stellt sich zweifelsfrei auf die Seite der Opfer. Aber es spielt noch ein bisschen mit dem unsicheren Gefühl der Theaterbesucher, wenn der erste von drei Monologen beginnt, in denen zwei Männer und eine Frau davon erzählen, wie sie ihren Missbrauch als Kind erlebten. Die Aussagen schlagen stark wie ein Pendel aus. Da ist das Sich-Einreden, dass man als Subjekt der Begierde
Macht besaß. Die Wut darüber kommt hoch, dass die Sexualität da war, ohne, dass man sie wie andere selbst entdecken durfte. Auch die üble Erinnerung, dass man sich verfügbar zu halten hatte, lässt Bitterkeit aufsteigen. Dazwischen sei dieses und jenes auch gut gewesen. Einig sind die drei sich aber darin, dass sie mit niemandem darüber sprechen konnten, was ihnen angetan wurde. Das sei das Schlimmste gewesen. Das sei das Schlimmste noch jetzt.
Die in Weiß gekleideten Schauspieler scheinen sich in der Koproduktion mit dem Theater unterm Dach in einer Art Therapieraum zu befinden. Sie greifen sich an der Seite gestapelte schwarze Puzzleteile und setzen sie während des Monologs zusammen. Bis zum Ende des Stücks wird eine Art Räderwerk am Boden entstehen, deren Teile sich selbstständig bewegen. Eins greift ins andere wie Ereignisse im Schicksal der Erzählenden. Zusammen mit den schmalen Stoffwänden, hinter denen Pädophile unerkannt bleiben wollend als Schatten sprechend beklagen, dass sich niemand seine sexuelle Ausrichtung aussuchen kann, fügt sich das zur besten Ausstattung, die bisher von Halina Kratochwil im Theater zu sehen war.
Bei der Inszenierung von Marc Lippuner nehmen sich die Schauspieler zurück. Anja Dreischmeier, Lutz Aikele und Michael F. Stoerzer sind sich der Kraft des Textes und somit der Sprache bewusst. Sie sind vorsichtig mit den Gesten. Dennoch gibt sich das Stück etwas weicher als ein reines Dokumentarspiel, auch wenn es voller Fakten ist, die zusammen ein merkwürdiges Bild des politischen Umgangs mit dem Sachverhalt des Kindesmissbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland widerspiegeln. Die Parteien SPD und FDP wollen sicher nicht daran erinnert werden, dass sie als Koalitionsregierung 1980 nach der großen Sexualstrafrechtsreform auch den Paragraf 176 ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch streichen wollten. Eine Debatte über die Abschaffung des Paragrafen, der den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe stellt, gab es auch schon bei den Grünen. Mehr und mehr Fakten reihen sich in »LiEBK!ND« aneinander, die auch Überreaktionen in der Gesellschaft einschließen, den Tatort Familie und den Umgang mit Straftätern auch in anderen Ländern nicht unerwähnt lassen. Schwarzen Humor gibt es bei Hieben auf die Medien dazu. Da dürfen natürlich Freifrau von und zu Guttenberg und ihr Tun bei RTL 2 nicht fehlen.
Ein gutes, ein mutiges Stück zu bewegenden Fragen der Zeit. Ohne Hysterie und so sachlich wie es im Theater nur geht, wenn es gutes Theater sein soll. Über die Antworten kann sich jeder selber Gedanken machen. Sich um missbrauchte Kinder kümmernde Organisationen geben an, dass man – ohne es zu wissen – so viele pädophil veranlagte Menschen kennt wie einem Zuckerkranke bekannt sind.


"LiEBK!ND" im Theater unterm Dach

ArtiBerlin (Ulrike Bauer, 17. Februar 2011) 


Mit Skepsis machte ich mich auf den Weg ins Theater unterm Dach. Wenn es um Pädophilie geht, dann haben Programmankündigungen wie die Frage, ob „wir einen differenzierten Blick auf unsere eigenen Werturteile überhaupt aushalten“ und ob die Einteilung in Gut und Böse nicht stereotyp
sei, erstmal einen faden Beigeschmack. „Deutsches Gutmenschentum!“ würde Herr Schweiger brüllen.
Jedoch entzieht sich „LiEBK!ND“ unter Regie von Marc Lippuner dieser Gefahr dadurch, dass der Großteil aus Perspektive der damaligen Kinder und jetzigen Erwachsenen erzählt wird. Die Schauspieler Lutz Aikele, Michael F. Stoerzer und Anja Dreischmeier lassen uns ungemein glaubhaft an den persönlichen Schicksalen ihrer Rollen teilhaben – ohne Tränendrüse aber mit überraschenden Gedanken. Wenn Ersterer seine Macht über den viel Älteren beschreibt und wie er diese als Elfjähriger gezielt ausspielte, dann sorgt das nicht nur für teilnahmsvolle Mienen im Publikum, sondern für zahlreiche Momente, in denen man sich das Lachen nicht verkneifen kann. Die an Ronald M. Schernikaus Werk „legende“ angelehnte Geschichte provoziert mit einer Darstellung von Kindesmissbrauch, die vom Opfer mit Begriffen wie „Liebe“ bedacht wird, noch heute empfinde er Mitleid für den Mann, mit dem er immer noch einmal im Jahr telefoniert.

Klar wird im Laufe der Inszenierung, dass kein triefendes Selbstmitleidsgetue von Nöten ist, um das Leid der Betroffenen auf der Bühne sichtbar zu machen. Dazu reicht ein Blick, ein beiläufiger Nebensatz. Weiter geht es mit der Aneinanderreihung von geschichtlichen sowie medialen Entwicklungen im Umgang mit Pädophilie und problematischen Begrifflichkeiten, welche in hoher Geschwindigkeit und so sachlich wie möglich konstatiert werden. Eine gute Entscheidung, so schockiert beispielsweise die einstige Debatte von SPD und Grünen um die Abschaffung des Kinderschutzparagraphen 176 ohne weiteres Zutun mehr als genug.
Visualisiert wird der harte Stoff durch die Konzentration auf Schwarz und Weiß… Klischee oder doch Statement? Ausstatterin Halina Kratochwil hat sich zudem mit den Puzzleteilen, Zahnrädern und Pappfiguren etwas Besonderes einfallen lassen. Diese untermalen die unterschiedlichen Erzählstränge, geben den drei Spielern die Möglichkeit sich festzuhalten, abzureagieren und werden schließlich von ihnen zu einem miteinander verbundenen, sich drehenden Uhrwerk zusammengesetzt. Ein soziales Gefüge, welches einige Aussetzer zu verkraften hat.

Insgesamt hat die Theatergruppe PortFolio Inc., die 2009 neben Lippuner, Stoerzer und Kratochwil von der Dramaturgin Tine Ebel gegründet wurde, mit „LiEBK!ND“ eine äußerst interessante und sehenswerte Collage geschaffen, die neue Blickwinkel aufzeigt, eine Auseinandersetzung mit der Thematik fördert und Diskussionsanreize bietet.


LiEBK!ND

zitty (Barbara Fuchs, Ausgabe 05/2011)


Fast täglich ist es in den Schlagzeilen. Jetzt hat Marc Lippuner das Thema Kindesmissbrauch mit seiner Gruppe PortFolio Inc. inszeniert. Zwei Männer und eine Frau stehen isoliert zwischen Licht und Schatten. Einer von ihnen treibt mit den Füßen Puzzle-Bausteine vor sich her, lacht verlegen, zögert. Nein, einfach erzählen kann er nicht über das, was ihm geschehen ist. Lange war es ein Geheimnis, es kostet ihn Überwindung. Aber dann gibt er viel von sich preis. Lutz Aikele gestaltet den Monolog nach einer Erzählung von Roland M. Schernikau über die sexuelle Beziehung eines Elfjährigen mit einem Arzt als Gratwanderung in der Bewältigung des Erlebten, zeigt seine Unsicherheit über dessen Bewertung.
Es folgen Monologe über Missbrauchserfahrungen von Anja Dreischmeier und Michael F. Stoerzer. Auch hier als Requisiten nur das Puzzle. Sie versuchen, zu erinnern, was gefühlt wurde, welche Ängste, welche Albträume geblieben sind. Im Spiel entstehen atmosphärische Dichte, Verunsicherungen, Fragen.
Danach werden gesellschaftliche Debatten, die Medien und der Tatort Internet spielerisch aufgegriffen. Fast ist es zu viel des Guten. Doch das geniale Bühnenbild (Szenografie: Halina Kratochwil) fängt alles auf. Am Ende stehen die Spieler verstummt, die Bausteine ruckeln selbsttätig über die Bühne und teilen mit: Es ist längst noch nicht alles gesagt.